Nationalistische Mobilisierung und antinationale Bewegung in Griechenland während des Makedonien-Konflikts 2018
Im Januar 2018 ist der Streit zwischen Griechenland und Makedonien um die Bezeichnung des makedonischen Staats wieder eskaliert. Während der Ministerpräsident der griechischen Regierung von Syriza-ANEL, Alexis Tsipras, sich um einen Kompromiss mit der makedonischen Regierung des Sozialdemokraten Zoran Zaev bemühte, mobilisierte das rechte politische Lager in Griechenland zu Massenprotesten, in deren Rahmen es zu faschistischen Angriffen auf besetzte Häuser kam. Dabei haben Faschisten in Thessaloniki das besetzte Haus Libertatia vollständig abgefackelt. Mitte Juni kam es zu einer Kompromisslösung. Die offizielle Bezeichnung des makedonischen Staats lautet nun Severna Makedonija bzw. Nordmakedonien. Im folgenden Text beschäftigen wir uns noch einmal mit den Hintergründen des zwischenstaatlichen Konflikts und den beteiligten politischen Akteuren, wir versuchen, eine Einschätzung der Einigung zu geben und letztlich die antinationale Kampagne der anarchistischen Bewegung in Griechenland darzustellen.1
Expansionspläne von NATO und EU
Vor dem Hintergrund miteinander kollidierender territorialer Ansprüche auf die historische Region Makedonien haben sich die griechischen Staatsführer seit der Unabhängigwerdung des nördlichen Nachbarstaats 1991 geweigert, ihm die Selbstbezeichnung „Makedonien“ zuzugestehen. Zwischenstaatliche Konflikte inklusive nationalistischer Massenproteste in Griechenland hatten Mitte der 1990er zur vorläufigen Bezeichnung „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ (FYROM) geführt. Dennoch hat Griechenland in den 2000ern den NATO-Beitritt Makedoniens und auch die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zur EU verhindert. Nach drei Jahren Pause in den Verständigungsgesprächen zwischen Griechenland und Makedonien wurden diese im Dezember 2017 auf Initiative der UN fortgesetzt. Der Moment war günstig, da in Skopje nun eine sozialdemokratische und in Athen schon seit längerem eine linke Partei an der Macht war und sich beide einigungsbereit zeigten. Der Grund, warum UN, EU und NATO beide Seiten zu einer Einigung gedrängt haben, besteht in den Absichten der EU und NATO, Makedonien endlich in die euroatlantischen Strukturen einzubinden und damit die Flanke im Balkan gegenüber der russischen Einflusssphäre zu schließen. Die Frist für eine Einigung war gewissermaßen das NATO-Gipfeltreffen vom 11. und 12. Juli 2018, denn zu diesem Treffen wollte und wird die NATO wohl auch Makedonien zu Aufnahmegesprächen einladen.
Die nationalistische Mobilisierung – Nationalismus als Bewegung
Diese Abläufe boten dem rechten politischen Lager in Griechenland den Anlass zu einer breiten Straßenmobilisierung gegen die Regierung. Beteiligt daran waren der rechte Flügel der nationalistischen Parteien Nea Dimokratia und LAOS sowie Teile des nordgriechischen Kapitals und der orthodoxen Kirche. Außerdem haben fast alle Medienanstalten die nationalistische Propaganda mitbefördert. Es fanden zwei Großdemos statt: die erste mit 100.000 Demonstrant_innen am 21. Januar 2018 in Thessaloniki und eine weitere mit ebenfalls über 140.000 Demonstrant_innen am 4. Februar 2018 in Athen. Die Großdemos boten der Rechten die Möglichkeit, sich zu sammeln und ihre Opposition gegen die Regierung Syria-ANEL zu verbreitern und zu reorganisieren. Insofern können die Proteste auch als Zuspitzung eines Konflikts zwischen der traditionellen Rechten und der erst kürzlich eingebundenen (ehemals radikalen) Linken innerhalb der staatlichen und ideologischen Apparate gedeutet werden. Die Großdemos sind aber angesichts der Beteiligung von Zehntausenden von Menschen aus ganz Griechenland auch als Ausdruck eines eigenständigen Nationalismus von unten zu bewerten, eines Nationalismus als Bewegung, der sich spätestens ab 2011 in ganz Europa auf den Straßen durchgesetzt hat.
Die Großdemos und das allgemeine Klima schufen insbesondere für die Faschisten einen Bewegungsmoment. Neben der Goldenen Morgenröte beteiligten sich auch unabhängige faschistische Gruppierungen und faschistische Fußball-Hooligans an den Demos. Sowohl während der Demos, aber auch an anderen Tagen fühlten sie sich zu Angriffen auf Linke, Anarchist_innen und Minderheiten ermutigt. Am 21. Januar 2018 wurde das besetzte Haus Libertatia in Thessaloniki niedergebrannt. Am 17. Februar wurde das anarchistische Fußballteam Proodeftiki Toumbas nach einem Spiel in Thessaloniki von einer Gruppe Faschisten angegriffen. Eine Woche später, am 25. Februar, wurde das soziale Zentrum Favela in Piräus von Faschisten angegriffen. Am 18. Juni haben Bullen und Faschisten gemeinsam den Schutz vorm besetzten Haus im nordostgriechischen Kavala angegriffen. Die Reihe faschistischer Angriffe hält bis heute an. Ende Juni hat es in Thessaloniki innerhalb von nur einer Woche mehrere Angriffe gegeben: Schändung des Holocaustmahnmal, Angriffe auf Schwule, Hetzjagden auf Migrant_innen.
Neben dem rechten Lager und der faschistischen Szene mobilisierte auch die patriotische Linke zu den Demos.2 Ausschlaggebend war hier der Glaube, dass sich über nationale und antiimperialistische Kämpfe auch progressive Forderungen ausdrücken lassen, konkret dass über den Namensstreit mit Makedonien die Einbindung Makedoniens in die NATO und damit die vollständige Dominanz der NATO in der Region verhindert werden könnten. Ein weiterer Faktor wird gewesen sein, dass die linken (Kleinst-)Parteien als Wahlparteien ihr potenzielles Wählerklientel, „das Volk“, bei den Großdemos abholen wollten und dass viele griechische Linke tatsächlich einfach unverbesserliche Patrioten sind. Letzten Endes haben die Linken weder zahlenmäßig noch inhaltlich Einfluss auf die Großdemos nehmen können. Stattdessen haben sie die nationale Front bis weit in die radikale Linke hinein geschlossen und die Großdemos weiter legitimiert. Mit von der Partie waren neben EPAM und Adrin auch jene linke Parteien, die sich 2015 von Syriza abgespalten haben: die Plefsi Eleftherias der ehemaligen Syriza-Abgeordneten Zoe Konstantopoulou und die KOE. Die LAE um Panagiotis Lafazanis hat zwar nicht zu den Großdemos aufgerufen, hat sich aber auch nicht vom Nationalismus distanziert, sondern stattdessen die Perspektive eines linken Patriotismus eingefordert. Natürlich durfte auch Mikis Theodorakis, der in Deutschland noch immer als Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung und die Obristendiktatur gefeiert wird, nicht als Redner bei der Großdemo in Athen fehlen. Nur wenige linke Organisationen, darunter die trotzkistische OKDE und die linksradikale ANTARSYA haben eine klare Haltung gegen die Großdemos an den Tag gelegt.
Einschätzung des Kompromisses
Mitte Juni wurde das Ergebnis der Verhandlungen bekannt gegeben. Der makedonische Staat trägt nun die Bezeichnung Severna Makedonija bzw. Nordmakedonien. Dieser Kompromiss ist dabei durchaus auch im nationalen Interesse Griechenlands. Er konsolidiert die Rolle Griechenlands als „Führungsmacht auf dem Balkan“, wie Tsipras selbst verlautbaren ließ. Denn zum einen ist Griechenland nach dem Zusammenbruch der staatskommunistischen Regime und der Öffnung der Grenzen 1990 zur Regionalmacht auf dem Balkan avanciert. Griechisches Kapital ist massiv in die nördlichen Nachbarländer expandiert und hat Griechenland so zum größten ausländischen Investor in der Region gemacht – auch in Makedonien und auch nach 10 Jahren Krise. Eine Normalisierung des Verhältnisses und der Geschäftsbeziehungen zum Zielland der Kapitalexpansion ist also im Interesse des griechischen Kapitals. Zum anderen befindet sich Griechenland derzeit in einem weitaus wichtigeren zwischenstaatlichen Konflikt und zwar mit der Türkei. Der Konflikt dreht sich v.a. um die Rechte auf die Ölvorkommen in Meeresgebieten, deren Zugehörigkeit zu einem der beiden Staaten umstritten ist. Dabei kann Griechenland keine weiteren heißen Konflikte gebrauchen. Außerdem ist es im Muskelspiel mit der Türkei angesichts von deren weit überlegener Militärmacht auf die Deckung der NATO angewiesen.
Die nationalistischen Proteste scheinen mit der Unterzeichnung der Einigung an Anziehungskraft verloren zu haben. Zur Vertragsunterzeichnung am 17. Juni am Prespa-See haben sich gerade einmal 3000 Nationalist_innen und Faschist_innen zusammengefunden. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und zum Einsatz von Tränengas gegen die Demonstrant_innen. Demos in Thessaloniki und Athen zum selben Wochenende begrenzten sich auf ein paar Hunderte Nationalist_innen.
Antinationale Kampagne
Auf die nationalistische und faschistische Straßenbewegung und die damit einhergehende rechte Propaganda haben anarchistische Gruppen im ganzen Land auf mehreren Ebenen reagiert.
In ganz Griechenland wurde eine umfangreiche Gegeninformation organisiert: In unzähligen Stadtteilen wurden antinationale Plakate verklebt, es gab Kundgebungen, Verteilungen von Flyern und Flugblättern. Die griechenlandweite anarchistische Straßenzeitung Apatris gab eine ganze Sondernummer zu Makedonien-Konflikt heraus.
Am Tag der ersten nationalistischen Großdemo in Thessaloniki, dem 21. Januar 2018, fand im Stadtzentrum eine antinationale Kundgebung mit ca. 400 Leuten statt. Während der Kundgebung wurde bekanntermaßen das besetzte Haus Libertatia von Faschisten angegriffen und abgefackelt. Am Tag danach gab es in Reaktion darauf eine antifaschistische Demo mit über 2000 Teilnehmer_innen. Dabei kam es zu Kämpfen mit der Polizei und mehreren Festnahmen. Auch in anderen Städten reagierte die Bewegung durch Angriffe auf faschistische Strukturen unmittelbar auf die Ereignisse in Thessaloniki. Die Gruppe von Libertatia hat indes beschlossen, eine Kampagne zum Wiederaufbau des besetzten Hauses zu starten und sammelt dafür Gelder.
Während der zweiten Großdemo in Athen am 4. Februar 2018 wurde der Schutz der besetzten Häuser und Bewegungsstrukturen durch starke Verteidigungsgruppen und antifaschistische Straßenpatrouillen organisiert. Zwei Angriffe konnten daher abgewehrt werden – der Angriff von Faschisten auf das soziale Zentrum und besetzte Theater Empros und der Angriff der Polizei auf ein Büro des linksradikalen Wahlbündnisses ANTARSYA. Außerdem fand in der Innenstadt eine Antifa-Kundgebung mit 2000 Anarchist_innen und radikalen Linken statt. Im Anschluss an die nationalistische Großdemo wurden einige Faschisten durch die Straßen gejagt. Auch in anderen Städten gab es während kleinerer nationalistischer Demos antifaschistische Straßenpatrouillen, so in Herakleion am 4. Februar oder in Ioannina am 6. Juni.
Die Aktionen gingen jedoch über den reinen Selbstschutz hinaus. Es fanden auch Gegenangriffe auf faschistische Strukturen statt. Am 3. Februar wurde das Büro der Goldenen Morgenröte in Piräus angegriffen. Mehrere Faschisten wurden dabei zusammengeschlagen. Am 28. Februar haben Antifaschist_innen in Herakleion das letzte Büro der Goldenen Morgenröte auf Kreta verwüstet. Kurz vor einer geplanten Veranstaltung mit dem faschistischen Parlamentsabgeordneten Yannis Lagos drangen sie bei hellichtem Tage in das Büro ein und verwüsteten es mit einem Vorschlaghammer und einem mit Farbe gefüllten Feuerlöscher vollkommen.
Für den 10. März haben dann Gruppen aller Spektren und aus ganz Griechenland zu einer balkanweiten antinationalen Demonstration in Thessaloniki aufgerufen. Auf der Demo gab es mehrere Blocks, u.a. einen gemeinsam internationalistischen Balkan-Block mit Genoss_innen aus zahlreichen Ländern der Region, einen Block der Anarchistischen Politischen Organisation (APO), einen feministischen Block, einen Block der migrantensolidarischen Wohnbesetzungen aus Athen. Um die 4000 Leute waren auf der Demo, was sie zu einer starken Ansage und zu einer der größten anarchistischen Demos in Thessaloniki in den letzten Jahren gemacht hat. Ein Video der Demo findet sich hier. Nach der Demo kam es um die Uni herum zu Kämpfen mit der Polizei, bei denen reichlich Molotow-Cocktails flogen. Nach einer Pause gingen sie am Abend weiter. Währenddessen fand in der Uni eine Veranstaltung mit Genoss_innen aus dem Balkan statt. Es gab Beiträge von der Belgrader Verlagsinitiative Burevesnik, der Antifa Bitola und dem sozialen Zentrum Dunja aus Skopje, der Antifa Bulgarien aus Sofia, dem Infoladen Pippilotta und der Verlagsinitiative Što čitaš? aus Zagreb, der anarchistischen Initiative aus Ljubljana und der anarchistischen Föderation von Slowenien und Kroatien.
Seit Mitte Juni, seitdem die nationalistischen Demos in Griechenland vor allem auf das faschistische Spektrum begrenzt und damit überschaubar bleiben, werden aus der anarchistischen Bewegung heraus Gegendemos organisiert, die den Faschisten zahlenmäßig überlegen sind und ihnen den Weg in die Stadt versperren.
Was bleibt?
Auch wenn das Ausmaß der nationalistischen Großdemos und die damit einhergehende faschistische Gewalt erschreckende Ausmaße angenommen haben, kann nach diesem letzten halben Jahr durchaus eine positive Bilanz ziehen. Während der nationalistischen Massendemo von 1992 gab es keine Gegenaktionen und keine Gegenwehr. Was es damals an Gegenkultur und Anarchist_innen gab, versteckte sich und versuchte, nichts abzukriegen. 25 Jahre später ist die anarchistische Bewegung zu einer gesellschaftlichen Bewegung geworden, die in der Lage ist, sich gegen die nationalistische Mobilisierung zu verteidigen und eine politische Gegenkampagne durchzuführen. Weiterhin wurde deutlich, dass die anarchistische Bewegung sich, während der Großteil der griechischen Linken die nationalistischen Demos unterstützt hat, ganz klar positioniert hat und damit die bestimmende Kraft in antifaschistischen und antinationalen Kämpfen darstellt. Drittens hat sich gezeigt, dass die jahrelange internationalistische Vernetzungs- und Solidaritätsarbeit unter Anarchist_innen im Balkan Beziehungen und ein Netzwerk hervorgebracht haben, das länderübergreifende gemeinsame Mobilisierungen wie zuletzt gegen den Lukoffmarsch in Sofia oder eben die balkanweite antinationale Demo in Thessaloniki möglich macht.
Fußnoten
1Auch in Makedonien gab es während der Verhandlungen um den Namen nationalistische Proteste und Bemühungen seitens der Linken, eine klare antimilitaristische Position gegen die NATO-Expansion rüberzubringen. Diese Proteste und die jüngere Geschichte des makedonischen nation-building werden in diesem Artikel nicht behandelt.
2An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass in der politischen Landschaft Griechenlands zwischen der Linken und der anarchistischen-antiautoritären Szene unterschieden wird. Erstere ist historisch aus Abspaltungen von der Kommunistischen Partei entstanden und organisiert sich in Parteien oder parteiangebunden. Letztere ist aus der Gegenkultur der 1970er Jahre hervorgegangen und organisiert sich unabhängig von und gegen den Staat und seine Parteien. Die Linke ist also nicht wie in Deutschland ein umfassender Begriff für alles, was es zwischen Jusos und Anarchist_innen gibt, sondern bezeichnet ein politisches Lager, das klar von der anarchistischen und antiautoritären Bewegung abzugrenzen ist.